Aus der Krise in die Zukunft

Der Klagegesang wird lauter, der Chor größer. Es gibt berechtigte Kritik an Strukturen und Hierarchien im Theater. Es gelingt nicht immer eine angstfreie Atmosphäre zu schaffen, Vorwürfe der Diskriminierung und des Machtmissbrauchs dringen aus dem Theater heraus an die Öffentlichkeit.

Der Diskurs über das Arbeitssystem Theater wird durch Verbände & Netzwerke, Publikationen, Gesprächsformate, Forschungsarbeiten und die tägliche praktische Arbeit am und im Theater gestaltet. Die allgemeine Auseinandersetzung mit den Intendanzmodellen, ihrer Machtkonzentration oder dem Aufbrechen derselben durch Verantwortungsteilung, ist ein wertvoller Beitrag zum Wandel der Theaterstrukturen. Ebenso das Ringen um angemessene Tarifverträge, die einerseits eine künstlerisch freie Tätigkeit ermöglichen, aber auch den Menschen und ihren Bedürfnissen an Sicherheit und Stabilität gerecht werden. Die ewige Frage um die Finanzierung hat nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Corona-Krise neue Bedeutung gewonnen. Die Steuerausfälle sind beträchtlich, die Neuverschuldung der öffentlichen Hand hoch, es müssen Mittel umverteilt werden. Während der Corona-Pandemie wurden auch weniger fruchtbare Diskussionen geführt, deren Kern weder das gegenseitige Verständnis noch die gegenseitige Wertschätzung war. In solchen Diskussionen bekam ich das Gefühl, die überwunden geglaubte Annahme, dass Kultur eine freiwillige und damit leichterhand zu kürzende Leistung sei, erführe eine Auferstehung als ausschlaggebendes Argument. Ein Argument, dass ich persönlich für eine Mär halte. Nun habe ich Sorge, dass diese Wiedergängerin den offenen Austausch in den nächsten Jahren einschränken wird. In diesem Zusammenhang war Systemrelevanz das so knappe wie begrenzende und allgegenwärtige Schlagwort – mir kam dabei die Reflexion über die Systeminhärenz u.a. der Kultur zu kurz.

Zugleich waren sich die Beschäftigten der Theater in Trägerschaft der öffentlichen Hand des Privilegs bewusst, weiterhin ihr Gehalt zu bekommen, auch wenn das Theater seine Pforten und vor allem seinen Vorhang corona-bedingt nicht öffnen durfte. Gleichwohl wussten sie um die Sorgen der Kolleg*innen aus dem Kreis des freischaffenden Theatermachens, deren Honorare und Existenzgrundlage von stattfindenden Veranstaltungen abhängen.

Die Bemühungen und Entwicklungen auf der Meta-Ebene sind wichtig und werden von ausgewiesenen Expert*innen vorangetrieben, die alle Perspektiven in den Diskurs einbringen: Neue Führungsmodelle, Änderungen in Tarifverträgen, das Ringen um eine ausreichende Finanzierung mit einem entsprechend großen Freiraum für die Kunst, der Wandel von Organisationsstrukturen, der Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen und hohe künstlerische Qualität ermöglicht. Das braucht jedoch Zeit, etappenweise Umsetzung und ein hohes Maß an Kompromissfähigkeit auf allen Seiten.

Sie als Führungskraft in einem Theater brauchen aber auch heute Lösungen für die Konsequenzen, die sich aus dem Status Quo der o.g. Punkte ergeben – und zwar für Ihr Theater. Jedes Haus ist einzigartig aufgrund seiner künstlerischen Vision, seiner Größe, seines Trägers, der Gestaltung seiner Rechtsform, seiner Strukturen, seiner Sparte(n), seiner Stadt und Region, der aktuellen (kultur-)politischen Lage und vor allen Dingen aufgrund der Individuen, die das jeweilige Theaterkollektiv mit ihren fachlichen und persönlichen Kompetenzen ausmachen. Deshalb brauchen Sie eine konkrete Betrachtung und Analyse der gegenwärtigen Herausforderungen in Ihrem Hause.

Wie frustrierend war es für mich als Geschäftsführer eines Theaters nicht zu wissen, wie lange das Haus geschlossen bleiben wird – insbesondere, weil ich diese Antwort dem Team gegenüber schuldig bleiben musste. Die Corona-Krise hat uns alle vor außergewöhnliche Herausforderungen gestellt, aber diese Krise hat mir auch bewusst gemacht, welche Aspekte und vor allem Möglichkeiten als Führungskraft besonders wichtig sind, um sie zu überstehen. Und diese Erkenntnisse will ich auch über den Krisenmodus hinaus retten und künftig in die Zusammenarbeit einbringen. Die Krise bot und bietet die Möglichkeit, Wandel voranzutreiben, da sie uns vor dringlichste Aufgaben stellt und wir folglich zum Handeln gezwungen sind. In einem jetzt beginnenden Rückblick können wir diese Erfahrungen nutzen, um den Wandel weiterhin aktiv zu gestalten, indem wir uns auf das Wesentliche konzentrieren: Kunst und Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen.

Es beginnt bei sehr basalen Einsichten, die wir beibehalten und in schrittweisen Änderungen in den Häusern übersetzen. Der wichtigste und größte Gestaltungsspielraum in den jeweiligen Theaterstrukturen und Rahmenbedingungen des Trägers ist die Kommunikation und der Umgang der Menschen miteinander. Die Voraussetzungen dafür sind Selbstreflexion und Zeit. Wenn diese erfüllt sind, dann gelingt Kommunikation dadurch, dass einander wirklich zugehört wird und zwar in der Überzeugung, mein Gegenüber verstehen zu wollen.

Kommunikation ist ein komplexer Vorgang, da jeder daran beteiligte Mensch allein für sich ein Kosmos ist, d.h. er trägt sein je eigenes Wissen, seine Gedanken, Ideen, Gefühle etc. mit sich, die im Zeitablauf höchst dynamisch in ihrer Gewichtung und in ihrer Vielheit sind und damit in ihrem Einfluss auf die Art und Weise wie gesprochen und zugehört wird. Zudem haben die Themen, zu denen kommuniziert werden, einen unterschiedlich starken Schwierigkeitsgrad. Aus welchem Anlass heraus wird miteinander gesprochen, in welchem sozialen und örtlichen Rahmen findet das Gespräch statt?

Neben dieser nicht abschließenden aufzählenden Beschreibung von Kommunikation möchte ich noch auf den Aspekt der Narrative eingehen. In welchen gesellschaftlichen Narrativen bewegen wir uns, wie und durch wen sind sie konstruiert, werden sie fortgeführt oder geändert? Welche Werte werden mit den vorherrschenden Narrativen vermittelt? Wie kohärent sind die Narrative, die wir verwenden, in sich und untereinander? Im Laufe meiner persönlichen Entwicklung konnte ich erkennen, wie sehr mein Denken durch das Primat ökonomischer Kriterien enggeführt worden war und sich in Lebensbereichen niedergeschlagen hatte, in denen sie schlicht nicht von Bedeutung oder aber nicht von erster Bedeutung sind. Die Welt ist zu komplex, als dass sie sich in ökonomischen Messgrößen ausdrücken oder auf diese reduzieren ließe. Diese Erkenntnis ist simpel und doch kann plötzlich aufscheinen, dass ihr im eigenen Handeln zuwidergehandelt wird.

Folglich ist es wichtig, Narrative zu hinterfragen, da sie Einfluss auf das individuelle Denken, Fühlen und Verhalten haben und somit auf die persönliche Kommunikationsweise. Wie lautet Ihr Selbstnarrativ und in welchem Maße unterziehen Sie dieses einer Prüfung, um sich vor Selbsttäuschung zu bewahren? Wer sich selbst und im Austausch mit anderen hinterfragt, kann sich bewusst werden, welche Strukturen im Sinne von Erzählungen er oder sie als gegeben hinnimmt, weil schon lange nicht mehr darüber nachgedacht wurde. Daraus können neue Narrative entstehen, weil die alten nicht mehr tragfähig sind. Eine weitreichendere neue Erzählung verändert auch die Kommunikation, im besten Falle wird sie offener, umfassender und verständlicher.

Die geistige Freiheit des Nachdenkens haben Sie immer und je kritischer i.S.v. differenzierter Sie dabei sind, desto freier wird es. Daraus erwächst ein Möglichkeitsraum, der aber nur gemeinsam mit anderen ausgefüllt werden kann. Darin liegt unsere Verantwortung, die Perspektiven der anderen ebenso wertzuschätzen wie die eigene, aus der Zusammenschau der Perspektiven zu lernen und sie gemeinsam in die bestmögliche Handlungsoption für die gegenwärtige Situation zu transformieren.

Durch das Verinnerlichen dieser Praxis kommt ihre Stärke auch in Zeiten der Krise zur Geltung. Ebenso in größeren Umbrüchen wie einem Intendanzwechsel, der häufig von einer Mischung aus Lust auf Neues sowie Unruhe und Unsicherheit in der Belegschaft begleitet wird. Auch in der grundlegenden Diskussion über die Arbeitsstrukturen im Theater schafft diese Praxis ein Fundament, sich gegenseitig zu verstehen und Kompromisse zu finden. Denn gleichgültig, wer auf welcher Stufe einer Hierarchie steht und welchen Narrativen wir folgen, wen wir aus welchen Gründen als Autorität wahrnehmen, der Grundsatz bleibt: Ich bin ein Mensch unter Menschen.

07|2021