Das Gespräch als Begegnung

Es gibt zahlreiche, wenn nicht zahllose Formen der Gespräche zwischen Menschen, mit denen unterschiedliche Zwecke verfolgt werden: Unterhaltung, Verhandlung, Abstimmung, Diskus­sion, Verbindung, Mitteilung, Erziehung etc. Im Folgenden steht jenes Gespräch im Zentrum, das „in die Tiefe menschlicher Gemeinsamkeit zu führen vermag“ (Gadamer (1986), S. 208), das Gespräch, das eine echte Begegnung zweier oder mehr Menschen ist. Dieser Abhandlung liegt die folgende These zugrunde: Ein Gespräch als Begegnung gelingt umso weniger, desto mehr die Menschen das eigene Sprechen in den Vordergrund stellen, das Zuhören und Einlassen auf die anderen hin­gegen vernachlässigen. Die Menschen müssen also dem Zuhören im Gespräch ein hohes Ge­wicht geben. Sie müssen sich unvoreingenommen auf die andere Person einlassen, verstehen wollen, was sie mit ihrer Rede sagen will. Und jede*r muss sich selbst klar ausdrücken, sich verständlich machen wollen. Hierzu bedarf es einer Selbstreflexion: ist mir selbst klar, was ich sagen will, bemühe ich mich um die richtigen Worte, um es auszudrücken; bringe ich zur Spra­che, was dem/der anderen mitgeteilt werden soll? Traue ich mich, es auszusprechen, besteht eine Gesprächsatmosphäre, in der ich mich offen äußere und offen bin für das, was mir die/der andere mitteilen möchte?

Ein respektvoller Umgang miteinander ist ratsam für ein gelingendes Gespräch – wir sind un­abhängig von Beruf, Status, Alter etc. stets Menschen unter Menschen –, d.h. die eigene Mei­nung ist nicht der alleinige Maßstab, der nur verkündet werden müsste. Vielmehr liegt ein Wahrheitskern (vgl. Heckmann (2018), S. 159-161) in jedem Sprechen, in jeder Perspektive. Durch den Austausch mit anderen gewinnt der Mensch Multiperspektivität, nur sie wird der Komplexität der Welt und des Le­bens gerecht und schärft den Blick auf Welt und Leben. Der Mensch erweitert sein begrenztes subjektives Meinen.

Das Gespräch ist nicht bloß das gesprochene und gehörte Wort, sondern es fließen viele Fak­toren in die Gesprächsatmosphäre ein: Anlass, Thema, Situation des Gesprächs, Ort & Umge­bung, die zur Verfügung stehende Zeit sowie Anzahl, Persönlichkeiten, Stimmungen der Beteiligten etc. Diese Faktoren können explizit angesprochen werden, da ein allgemeines Bewusstsein darüber die Verständigung erleichtern oder überhaupt erst möglich machen kann. So kann jede*r beginnen, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse hinsichtlich des Gesprächs zu reflektie­ren und ihnen nachzuspüren: z.B. warum berührt mich dieses Thema auf diese oder jene Weise? Wenn diese Erkenntnis ins Gespräch eingebracht wird, versteht das Gegenüber, wa­rum ich so agiere und reagiere. Damit verbunden ist die eigene Offenheit dafür, wenn das Gegenüber sich öffnet und mitteilt, wie es ihm mit dem Thema, der Situation, dem Gegenüber, dem Gespräch geht. Entweder kann das Fühlen des anderen nachempfunden werden oder es ist fremd, kann dann jedoch dazu dienen, etwas Neues von der /dem anderen zu lernen. Gefühle sind höchstpersön­lich und haben ihren Ursprung tief in der/im Einzelnen, deshalb sollten sie nicht als falsch oder un­angemessen verurteilt werden, Gefühle lassen sich nicht wegerklären – und jeder Versuch ist respektlos.

Fundamente des Gesprächs als Begegnung

Die Fähigkeit zum Gespräch ist ein Vermögen des Menschen, der Mensch hat Sprache und die Sprache findet im Gespräch statt; nur im Gespräch wird sie lebendig: etwas wird von jeman­dem gesagt, damit es ein anderer/eine andere hört, versteht und darauf antwortet usf. Je offener der Mensch ist, sich auf das Gespräch einzulassen, desto besser kann der Austausch mit dem/der anderen gelingen. Jedes Gespräch ist auch eine Annäherung durch Vortasten und Horchen auf all das, was das Gegenüber und jemand selbst je mitteilen – verbal und auch nonverbal – und was durch das Gespräch Neues entsteht: Gedanken, Einsichten etc. Voraussetzung für ein Ge­spräch ist folglich, sich selbst zu öffnen und beim anderen Offenheit zu finden, „damit die Fäden des Gesprächs hin- und herlaufen können.“ (Gadamer (1986), S. 208) Wenn die Menschen durch das Tasten und Horchen einander näherkommen, dann schreiten sie Schritt für Schritt tiefer in das Gespräch und verwickeln sich in dieses, sodass eine Gemeinsamkeit zwischen den Gesprächspartner*innen entsteht – d.i. das gemeinsam geführte Gespräch – und Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihren Sichtweisen entdeckt werden, und zwar gerade durch das gemeinsam geführte Ge­spräch.

Das Gespräch ist geprägt durch die lebendige Spontanität des Fragens und Antwortens, des Sagens und des Sich-gesagt-sein-Lassens. Das Gespräch hat einen eigenen Wahrheitsvorrang, denn es begegnen einander zwei oder mehr Menschen und tauschen sich miteinander aus, es treffen zwei oder mehr Welten und Weltverhältnisse aufeinander. Individuen können durch das Gespräch ihre Einzelheit ausweiten, indem sie die Perspektive der/des jeweils anderen in ge­wissen Grenzen auf- und einnehmen können, gerade weil sich jede*r selbst in das Gespräch einbringt: der andere kann etwas von der einen erfahren und die eine von dem anderen. Auf diese Weise werden Gemeinsamkeiten erforscht, entdeckt und erprobt, und zwar auf der Basis von Zustimmung, Einwendungen, Verständnis, Missverständnis etc. Hierfür ist es wichtig, dass jede*r die eigenen Überlegungen, Fragen, Zweifel, Vermutungen, inneren Bedenken etc. of­fen, redlich und ehrlich in das Gespräch einbringt, (vgl. Heckmann (2018), S. 161) die eigene Sichtweise möglichst klar dar­stellt. Auf diese Weise kann das jeweilige Gegenüber über die eigene individuelle Meinung und subjektive Sichtweise hinauskommen, indem es sich auf den anderen Menschen einlässt und dessen Perspektive kennenlernt. (vgl. Heckmann (2018), S. 208-209) Es ist gerade fruchtbar für ein Gespräch, wenn unter­schiedliche – gegensätzliche oder ergänzende – Auffassungen zu dem Gesprächsthema aufei­nandertreffen, daran kann die jeweils eigene Sichtweise geprüft werden, und zwar gemein­sam mit anderen Menschen. Der in jeder Auffassung enthaltene Wahrheitskern kann genauer herausgearbeitet und die Auffassung geschärft werden. Je unterschiedlicher die Gesprächs­teilnehmer*innen hinsichtlich ihrer Lebenserfahrungen und Hintergründe sind, desto besser können Einseitigkeiten und Irrtümer in den subjektiven Meinungen aufgespürt werden (vgl. Heckmann (2018), S. 161-162). Je un­terschiedlicher die Menschen sind, desto herausfordernder und wichtiger ist es, zwischen ihnen eine vertrauensvolle offene Gesprächsatmosphäre zu schaffen, damit der Austausch untereinander gelingt.

Was ist ein Gespräch? – Ein Gespräch ist ein Gespräch im äußersten und tiefsten Sinn, wenn mir im Gegenüber etwas begegnet, das ich aus meiner Welterfahrung so noch nicht kannte und das in mir bleibt und eine verwandelnde Kraft erzeugt. Das Gespräch ist geprägt durch das Zu-jemandem-Sprechen und Auf-jemanden-Antworten, d.i. die Zugewandtheit zum ande­ren Menschen: ich will ihn verstehen, er soll mich verstehen, d.h. ich sende nicht bloß die eigenen Meinungen, Sichtweisen etc. aus, sondern empfange auch diejenigen der anderen und reflektiere sie, spüre ihnen nach. Die Gesprächssituation muss individualisiert sein, d.h. jede*r Beteiligte muss genug Raum bekommen zu sprechen und gehört zu werden; Gruppen­gespräche in diesem Sinne gelingen deshalb nur bis zu einer gewissen Anzahl an Teilneh­mer*innen, wo die Grenze liegt, hängt von Thema, Zeit und davon ab, wie gut sich die Men­schen untereinander kennen und ob sie einander vertrauen. Der Dialog hat hier einen gewichtigen Vorteil, weil sich zwei Menschen nur aufeinander konzentrieren und sich jeweils nur auf einen anderen einlassen müssen. Im Dialog werden nur zwei Perspektiven miteinander geteilt und ggf. fortentwickelt; dieses Teilen und dieses Fortentwickeln können allerdings intensiver ge­schehen als im Gruppengespräch. Doch in allen Fällen ist von entscheidender Bedeutung, wie sehr sich die Beteiligten um das Gespräch bemühen, welche Motivation und welches Interesse sie ihm entgegenbringen. Je geringer diese Faktoren ausgeprägt sind, desto oberflächlicher bleibt das Gespräch.

Hemmnisse für ein Gespräch können subjektiv vorliegen oder objektiv gegeben sein (vgl. Abb. 1). Ein objektives Hemmnis ist es, wenn die Menschen keine gemeinsame Sprache sprechen, in der sie sich verständigen können. Ein komplexeres Gespräch kann dann nur stattfinden, wenn es Möglichkeiten der Übersetzung von der einen in die andere Sprache gibt. In der lan­gen Sicht kann das Erlernen der anderen Sprache die Fähigkeit zum Gespräch verschaffen. Ein Gespräch kann subjektiv gehemmt sein, wenn nicht gesprochen und/oder nicht gehört wird. Jemand spricht evtl. nicht, weil er/sie innerlich gehemmt ist, sich nicht öffnen kann/will bzw. das Gegenüber nicht offen findet, er/sie fürchtet, fühlt oder erfährt, nicht verstanden zu wer­den. Zudem kann es sein, dass jemand nicht die richtigen Worte dafür findet, was sie/er aus­drücken möchte – es kann (noch) nicht zur Sprache gebracht werden. Das Gespräch kann dadurch voranschreiten, diese Umstände zu benennen und gemeinsam nach Lösungen zu su­chen, wie diese Hemmungen verringert oder aufgelöst werden können.

Wer nicht hört, d.h. das, was das Gegenüber sagt, überhört oder falsch hört, ist zu sehr auf sich selbst fokussiert. Er/sie lässt sich nicht auf den anderen/die andere ein, will sein Gegenüber nicht verstehen oder ist anderweitig blockiert (vgl. Gadamer (1986), S. 207-215).

Abb. 1: Hemmnisse für das Gespräch

Zum Gespräch fähig werden bedeutet demnach, zuhören, verstehen und sich verständlich ma­chen wollen (vgl. Abb. 2). Ich spreche zu jemand anderem, es geht darum, dass sie/er mich versteht. Was erfahre ich von ihr/ihm, das ihr/ihm das Verständnis erleichtern könnte? Das ist das gegenseitige Wechselspiel von Hören & Aufnehmen, Sprechen & Mitteilen, wodurch eine gemeinsame Basis des Verständnisses entsteht. Verständnis kann hierbei bedeuten, den/die andere zu verstehen, d.h. die Gedanken, Sichtweisen etc. nachvollziehen zu können, oder es kann Verständnis aufgebracht werden, dass sich die/der andere auf bestimmte Art fühlt oder diese oder jene Perspektive hat, ohne dass dieses Fühlen oder diese Einschätzung vollumfäng­lich nachempfunden oder sie detailliert verstanden würde. In letzterem Fall wird das Gegen­über auch mit den Teilen seines Denkens und Fühlens akzeptiert, die dem Gesprächspartner fremd sind und bleiben.

Abb. 2: Zu jemandem sprechen – jemandem zuhören

In einem tiefergehenden Gespräch entsteht eine Schnittmenge zwischen den Gesprächs­partner*innen (vgl. Abb. 3). Das ist der Begegnungsraum, in dem durch wechselseitiges Spre­chen, Hören und Bezugnehmen aufeinander Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdeckt werden. Dies ist die Basis und der Raum, in dem sich aufgrund des Kennenlernens anderer Perspektiven neue Ideen und Gedanken entwickeln können. Es entsteht etwas Neues, das nur durch dieses Gespräch dieser daran beteiligten Personen möglich ist.

Abb. 3: Begegnungsraum im Gespräch

Wie viel Struktur braucht also ein Gespräch, wenn es tiefgehend sein soll? – Es ist nicht ratsam, ein enges Korsett der Gesprächsführung vorzugeben, denn dadurch verlöre das Gespräch seine Lebendigkeit sowie seine Dynamik und die Beteiligten büßten ihre Unbefangenheit ein. Die Gespräche würden im schlimmsten Falle mechanisch; die Menschen folgten nur noch be­stimmten Vorgaben oder Protokollen und brächten sich nicht mehr als freie, denkende, füh­lende Lebewesen ein. Gerade unter Berücksichtigung der Vielfalt an Gesprächsthemen, -situ­ationen, -anlässen sowie der Vielfalt der Menschen mit ihren Persönlichkeiten, Stimmungen, Temperamenten, Gefühlen, Gedanken etc. kann der erste Ratschlag für ein gelingendes Ge­spräch nur lauten, sich möglichst weit auf die Gesprächspartner einzulassen und bewusst die verschiedenen Faktoren, die das Gespräch beeinflussen, wahrzunehmen/zu spüren, sie sich bewusst zu machen, zu reflektieren, sie im eigenen Sprechen und Hören zu berücksichtigen und sie dem/der anderen gegenüber ggf. zu benennen, um sie verbal Teil des Gesprächs wer­den zu lassen. So können bspw. Störungen im Gespräch – z.B. Ungleichgewicht in Redeantei­len, sich nicht verstanden fühlen, Dominanz der Temperamentvollen über die Ruhigeren, man­gelnde Ernsthaftigkeit – zum Thema eines Metagesprächs über das ursprüngliche Gespräch gemacht werden, um sie im besten Falle zu klären und zu beseitigen, um anschließend zum ursprünglichen Gespräch und dessen Thema zurückzukehren (vgl. Heckmann (2018), S. 23). Ein weiterer, ggf. zu klärender Aspekt ist, ob die am Gespräch Beteiligten ein bestimmtes Ziel und alle dasselbe Ziel mit dem Gespräch verfolgen.

Das Zuhören ist von entscheidender Bedeutung. Was sagt mir mein Gegenüber, was will er/sie mir damit sagen? Ein geeignetes Mittel, um ein richtiges Verständnis sicherzustellen, ist das Paraphrasieren des vom anderen Gesagten in eigenen Worten. Dem Sprecher wird wiederge­geben, was die Hörerin verstanden hat. Wenn sich der Sprecher richtig verstanden glaubt, kann er das richtige Verständnis bestätigen. Erkennt der Sprecher ein Missverständnis, dann kann er es benennen und ggf. korrigieren, indem er sich weiter erklärt.

Der respektvolle Umgang miteinander ist ein weiterer Ratschlag, um gelingend miteinander zu kommunizieren. Wer bescheiden ist und seine eigene Perspektive nicht über alle anderen Sichtweisen erhebt – und sich damit selbst über die anderen zu erhöhen versucht – bewahrt sich eine Offenheit, etwas von den anderen zu erfahren, was er noch nicht kennt, und dieses in sein Weltverhältnis aufzunehmen. Gleichwohl bedeutet das nicht die reine Willkür, dass alle Perspektiven gleichermaßen berechtigt wären und gleichberechtigt nebeneinanderstünden. Gerade durch den Austausch miteinander und das eigene kritische Denken soll sich der Wahr­heit angenähert werden, d.h. die Zusammenschau mehrerer Perspektiven auf einen Sachver­halt lässt diesen Sachverhalt deutlicher hervortreten, weil die Perspektiven einander ergän­zen und es sich zeigt, welche Argumente, Beurteilungen etc. nicht miteinander in Einklang zu bringen sind bzw. der Sache nicht gerecht werden. Diese geprüften Perspektiven sind genauer, sicherer als die ungeprüften Einzelperspektiven (vgl. Heckmann (2018), S. 23-24).

Der respektvolle Umgang geht davon aus, dass in jeder Aussage ein Wahrheitskern steckt, den es im Gespräch herauszuarbeiten gilt. Jede*r stellt die eigene Perspektive zur Diskussion und ist bereit, sie fortzuentwickeln und sich nicht unbeweglich auf sie zu versteifen. Das mensch­liche Leben und somit die Erfahrungen und Sichtweisen des Menschen bleiben stets unabge­schlossen, es kommt immer wieder zu neuen Situationen und weiteren Erkenntnissen, wes­halb alle Auffassungen vorläufig bleiben und wieder geprüft und durch die Einbindung neuer Aspekte – z.B. aus einem Gespräch heraus – fortentwickelt werden müssen.

Ich bin als Hörer*in respektvoll, wenn ich aufmerksam und zugewandt zuhöre und verstehen will. Und ich bin als Sprecher*in respektvoll, wenn ich mich verständlich machen will und meine Einlassungen ernsthaft sind. Meine Äußerungen können selbstredend humorvoll sein, wenn es mir und der Gesprächssituation entspricht, doch nur, wenn ich den Humor nicht als Ablenkung nutze, um meine Sichtweise nicht wirklich preiszugeben. Es geht also um das ernst­hafte Bemühen, sich mitzuteilen.

Inwiefern muss ein Gespräch gelenkt werden? – Wenn ein bestimmtes Ziel verfolgt wird, bspw. die Erörterung eines bestimmten Sachverhalts, dann muss darauf geachtet werden, sich nicht in Abschweifungen und Nebensächlichkeiten zu verlieren. Jede*r Gesprächsteilneh­mer*in, dem/der solche Abwege auffallen, ist aufgefordert, es anzusprechen und die Gruppe zurück auf den Hauptweg des Gesprächs zu führen. Die Teilnehmer*innen zeigen dann von sich die Facetten, Wissen, Erfahrungen, die für die gegenwärtige Erörterung wichtig sind, und lassen andere außen vor. Deshalb gibt es im Gespräch lediglich eine bestimmte Schnittmenge zwischen den Gesprächspartner*innen; ein vollständiges Erfassen des Gegenübers ist auf­grund der Komplexität und der Dynamik des menschlichen Lebens nicht möglich. Je nach In­tensität und Intimität des Gesprächs kann diese Schnittmenge größer/weiter oder klei­ner/enger ausfallen.

Eine weitere Lenkungsmaßnahme ist es, durch Fragen den Gang des Gesprächs zu steuern. Eine Frage ruft häufig einen Antwortversuch hervor, wobei sie das Thema, die Richtung etc. vorgibt. Wer stellt mit welcher Intention Fragen? Möchte ich das Gegenüber und/oder den Sachverhalt besser verstehen? Möchte ich auf Fehler bei meinem Gegenüber hinweisen? Möchte ich das Gespräch zur Darstellung meiner eigenen Perspektive führen? Oder möchte ich gemeinsam mit dem/der anderen die Überlegungen weiterverfolgen, sie zusammen fort­führen, weil uns das Gespräch beide bereichert? Fragen können allerdings auch als unange­nehmes Ausfragen wahrgenommen werden, wodurch sie ggf. zu einer Verweigerung von Ant­worten führen und diesen möglichen Weg des Gesprächs blockieren. Bei einer freieren Ent­wicklung des Gesprächs hätte das Gegenüber evtl. von sich aus diesen Weg eingeschlagen und sich geöffnet. Ist es ein völlig freies Gespräch, dann erübrigt sich jede Lenkung und jede*r kann sich mit allem einbringen, was ihm/ihr gerade einfällt. Wenn die Teilnehmer*innen dabei of­fen sind und sich zeigen/einbringen, dann findet ebenfalls Begegnung statt. In jeder Ge­sprächsvariante ist es ein Zeichen des Respekts, wenn alle am Gespräch Beteiligten im von ihnen selbst gewünschten Maße den Raum bekommen, um sich zu äußern. Darauf kann die Gruppe gemeinsam achten, der/die Einzelne kann darauf hinweisen oder diese Aufgabe über­nimmt ein*e Moderator*in.

Sich selbst einlassen, den anderen empfangen und dies in respektvoller Atmosphäre – das ist das Fundament für ein gelingendes Gespräch. Es bietet eine sichere Grundlage und lässt zu­gleich viel Freiraum, um das Gespräch je nach beteiligten Menschen, Situation, Zeit etc. zu entwickeln.

Den Rahmen eines Gesprächs stellt die Gesprächsatmosphäre dar, die wesentlich von den be­teiligten Personen sowie von Umgebung und Zeit geprägt ist. Wie lässt sich eine Atmosphäre schaffen, in der Offenheit sich mitzuteilen und zu empfangen herrscht? – Das Einlassen aufei­nander und der gegenseitig gelebte Respekt sind die Grundlage der Gesprächsatmosphäre. Wenn Kritik in Form von Fragen, Zweifeln, Gegenüberstellung einer abweichenden Sichtweise respektvoll geäußert wird, d.h. nicht die Person, sondern die Sache kritisiert wird, führt das zu vertrauensvoller Offenheit unter den Beteiligten, weil niemand angegriffen wird und sich so­mit nicht verteidigen bzw. verbarrikadieren muss. Eine zugewandte, sympathische Begegnung erfordert Toleranz gegenüber anderen Sichtweisen und Bescheidenheit hinsichtlich der eige­nen Urteilskraft: niemand kennt alle Wege, die näher an die Wahrheit heranführen, und auch nicht alle Um- und Irrwege, die die einzelnen Menschen benötigen, um Einsicht und Reife auf ihre je eigene Art zu gewinnen. Es gilt den anderen zu vertrauen, dass sie ernsthaft bemüht sind und ihre Meinungen nicht leichtfertig bilden. Wer dieses Vertrauen hat, kann seinen Mit­menschen feinfühliger und geduldiger begegnen. Wenn sich dieser Raum öffnet, können die Menschen auch ihre Gefühle verbalisieren, die entscheidend zu ihren Sichtweisen beitragen, und sie so den anderen mitteilen. Dadurch erlangen die Gesprächspartner*innen ein vollstän­digeres, verständigeres Bild von dem Menschen, dem sie gerade begegnen, und seinen (Ge­sprächs-)Bedürfnissen.

Der Gesprächsort bzw. die Umgebung sind weitere wichtige Einflussfaktoren für die Atmo­sphäre. Bei komplexen und/oder intimen Themen sollte der Gesprächsort Ruhe und Konzent­ration ermöglichen; er sollte also möglichst störungsfrei sein. Außerdem ist er im besten Falle ein geschützter Raum, in dem offen und frei gesprochen werden kann, ohne dass jemand an­deres als die Adressat*innen mithören kann. Gleichwohl kann eine abwechslungsreiche Um­gebung hilfreich sein, um neue Gedanken zu schöpfen, bspw. auf einem Spaziergang oder in einem Café. Die Abwechslung darf aber nicht so reich sein, dass sie vom Gegenüber ablenkt. Der Fokus muss für ein gelingendes Gespräch stets auf den beteiligten Personen liegen. Wel­cher Ort und welcher Zeitraum für das Gespräch günstig ist, hängt primär von den Bedürfnis­sen der teilnehmenden Menschen ab. Auch hier kann es keine allgemeingültigen Vorgaben geben, lediglich den Ratschlag, sich im Zweifel darüber zu verständigen, was die einzelnen wollen, um zu einer für alle akzeptablen Entscheidung über Ort und Zeit zu kommen.

Überlegungen zur öffentlichen Gesprächs- & Begegnungspraxis

Wie nun kann diese Gesprächskultur in der Öffentlichkeit gelebt werden? Wie kann auf dieser Grundlage einander begegnet und gemeinsam gedacht werden? – Den Menschen soll die Möglichkeit gegeben werden, sich selbst in Gesprächen zu beobachten und zu reflektieren:

  • Wodurch wird ihr Vermögen des Zuhörens beeinträchtigt?
  • In welchem Verhältnis stehen bei ihnen senden und empfangen?
  • Worum geht es ihnen in verschiedenen Gesprächen: Anerkennung, Durchsetzung, emotionale Ergriffenheit durch (un-)mittelbare Betroffenheit vom Thema etc.?
  • Stehen ggf. die eigenen Gedanken, Urteile, Wertungen, Gefühle im Vordergrund und fühlen sie sich veranlasst, diese zu verteidigen?

Des Weiteren sollen die Menschen selbst die Erfahrung machen, wie es ist, wenn ihnen je­mand aufmerksam und wohlwollend zuhört, sich auf sie einlässt. Diese eigene Erfahrung kann zu einer Änderung des eigenen Gesprächsverhaltens führen, weil die Erkenntnis zugrunde liegt, dass es im Gespräch als Begegnung nicht darum geht, das Gegenüber zu belehren und die eigene Sichtweise durchzusetzen. Die Sichtweisen müssen sich bei jedem/jeder auf die je eigene Art entwickeln, dafür braucht es Freiraum, eben und gerade auch im Gespräch. Druck, Zwang, Angriff etc. verengen diesen Freiraum, erzeugen Widerstand und Blockaden. Wir soll­ten im Gespräch einander vielmehr etwas zum selbsttätigen Bedenken geben bzw. anbieten.

Die eigene Gesprächsbeteiligung zu kultivieren muss jeder Mensch für sich selbst vollziehen. Es kann ihm niemand Vorgaben machen, die alle möglichen Gesprächssituationen abdecken würden. Die in dieser Abhandlung aufgeführten Ratschläge werden zur eigenen empirischen Überprüfung angeboten, d.h. jede*r kann sie in Gesprächen selbständig erproben und auf ihre Tauglichkeit kritisch prüfen. Deshalb muss diese Gesprächskultur in verschiedenen Formaten wie Workshops, Gesprächskreisen, künstlerischen (Denk-)Zugängen vorgestellt und vorgelebt werden. In enger Verbindung damit steht das eigene Ausprobieren durch den einzelnen Men­schen. Wenn er davon überzeugt ist, kann er diese Gesprächskultur durch selbständiges Aus­üben einüben, um im Laufe der Zeit souveräner darin zu werden und es anderen vorzuleben.

 

Literatur

Gadamer, Hans-Georg (1986): Die Unfähigkeit zum Gespräch (1972). In: Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke. Band 2: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr, S. 207-215.

Heckmann, Gustav (2018): Das sokratischen Gespräch (1980). In: Dieter Krohn, Barbara Neißer und Walter Nora (Hg.): Gustav Heckmann. Das sokratische Gespräch. 3. Auflage. Münster: LIT Verlag, S. 17–210.

11|2021